Halbzeit, aber immerhin noch mehr als 45 Minuten
Jetzt sitze ich hier. 6 Monate in Ecuador und weiß ehrlich gesagt gar nicht, was ich schreiben soll. 6 Monate voller neuer Erlebnisse, Erfahrungen, Herausforderungen, vieler kleiner und großer Momente, die ich gar nicht aufs Blatt zu bringen weiß. Verrückt, dass das jetzt die Hälfte sein soll. Die Zeit vergeht so schnell und gleichzeitig fühlt sich der letzte Aufenthalt in Deutschland Jahre her an. Ich probiere, den roten Faden zu finden, nicht nur um diesen Bericht zu verfassen, sondern auch um meine eigenen Gedanken zu sortieren.
“Ich ruf dich an, wenn ich zuhause bin.”
“Du fliegst zurück nach Deutschland?! Was ist passiert?” - Nein, mein Zuhause ist hier. Hier in Ibarra. Nach einem halben Jahr in Ecuador fühlen sich die Straßen Ibarras vertrauter an als der Gedanke an meine Heimatstadt in Deutschland. Ich bin hier angekommen, habe viele neue Menschen kennengelernt, viele von ihnen in mein Herz geschlossen, konnte von ihnen lernen, habe ecuadorianische Freundschaften geknüpft, bin verliebt in die Landschaft dieses Landes, lerne von Tag zu Tag mehr Spanisch, freue mich am Freitag schon wieder auf Mittwoch und Donnerstag, um Salsa tanzen zu können und habe mich auch so langsam an den täglichen Reis mit Linsen gewöhnt. Ich war nie glücklicher und kann mir gar nicht mehr vorstellen, in nicht mal 6 Monaten wieder in Deutschland zu sein. Allein schon der Gedanke fühlt sich total fremd an.
Auch auf der Arbeit bin ich angekommen und damit habe ich mich ehrlicherweise sehr schwergetan. Es fällt schwer anzuerkennen, sich auch an die eigene Nase zu fassen und Dinge selbst in die Hand zu nehmen, um eine Veränderung zu erzeugen. Und vor allem erfordert es eine Menge Mut. Wir kommen in einer Routine an, die auf den ersten Blick unveränderbar scheint und zugegebenermaßen ist es schwer, neue Gewohnheiten zu etablieren und die bestehende Routine zu brechen. Doch ich glaube, ich habe meine Erwartungen zu hoch angesetzt und mir dadurch selbst einen großen Druck erzeugt. Es existierte die Illusion in meinem Kopf, dass ich hier einen Unterschied machen könnte. Einen Unterschied, den jeder von außen erkennen kann. Jetzt freue ich mich schon darüber, wenn selbst die kleinsten Kinder nach dem Mittagessen auf mich zugelaufen kommen, auf ihre Zähne zeigen und “cepillo” (= Zahnbürste) sagen. Ich habe angefangen, mit den Kindern nach dem Mittagessen Zähne zu putzen. Für den einen oder anderen klingt das wie eine Nichtigkeit, doch das sind genau die kleinen Momente, in denen ich das Gefühl bekomme, etwas zurück geben zu können und vielleicht doch einen kleinen Unterschied zu machen.
Und so finde ich mich zurecht und habe meinen Platz im Casa gefunden. Mit jedem Tag mehr auf der Arbeit schließe ich die Kinder mehr und mehr in mein Herz. Ehrlicherweise hätte ich mir niemals vorstellen können, dass es möglich ist, "fremde" Kinder so sehr in sein Herz zu schließen. Es ist das schönste Gefühl, wenn die kleinen Wesen über den Schulhof auf dich zu gerannt kommen, mit einem Grinsen im Gesicht und deinen Namen schreien, ihr Lächeln zu sehen und mit ihnen herumzualbern. Wie soll ich nur diese Kinder in 6 Monaten einfach hierlassen?!
Es fühlt sich komisch an, immer wieder Abschiede zu haben. Abschiede von Menschen, die man auf Reisen trifft, von anderen Freiwilligen und Kindern aus den Casas. Abschied ist ein ständiger Wegbegleiter und dadurch auch immer präsent in meinem Kopf. Wie wird es sein, wenn ich mich in 6 Monaten verabschieden muss? Wie fühlt es sich an, das letzte Mal in Ibarra in den Bus zu steigen und nicht zu wissen, wann und ob man jemals wieder kommt? Wie wird es sein, in den Flieger zu steigen und ihn erst über 10.000 km später zu verlassen? Die letzte Umarmung von den Kindern. Das letzte Mal Salsa tanzen. Ich möchte nicht darüber nachdenken, probiere im Hier und Jetzt zu leben und doch werde ich ständig daran erinnert. Ich habe doch eigentlich noch 6 Monate. Ich habe noch die Hälfte der Zeit und trotzdem kommt oft die Frage auf, wieso baue ich mir hier ein Leben auf, wenn es in 6 Monaten einfach so vorbei sein soll.
Während der Vorbereitungszeit vor dem Freiwilligendienst wurde immer wieder betont, dass dieses Jahr eigentlich eher ein Lerndienst für uns selbst ist. Mir war bewusst, dass ich neue Erfahrungen sammeln werde und meinen Horizont erweitern werde. Doch vor meiner Zeit hier konnte ich mir nicht vorstellen, wie sehr wir uns alle weiterentwickeln werden. Ich bin schon jetzt an so vielen Herausforderungen gewachsen, lernte viel über mich selbst, habe persönliche Krisen überstanden und gelernt, manche Situationen einfach etwas lockerer zu nehmen. Eins aber habe ich vor allem gelernt, die Zeit zu schätzen und dankbar zu sein, alles erleben zu können.
Da wartet sie nun auf mich: die zweite Hälfte des Freiwilligendienstes. Voller Überraschungen und Herausforderungen, von denen ich jetzt noch nichts ahne, aber auch mit vielen neuen Eindrücken und besonderen Momenten. Weitere 6 Monate in denen ich noch mehr von der Kultur dieses Landes erfahre, vielen neuen Reisezielen, dem Besuch meiner Familie und noch viel Zeit bis zum Rückflug. Mal sehen, was diese Hälfte noch mit sich bringt.